Barrieren überwinden: Was das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz für Unternehmen und Konsumenten wirklich bedeutet

Guido Kluck, LL.M. | 9. Juni 2025

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) revolutioniert ab dem 28. Juni 2025 die digitale Landschaft in Deutschland: Websites, Onlineshops, Apps und elektronische Geräte müssen barrierefrei gestaltet sein – und das nicht nur für öffentliche Stellen. Welche Pflichten Unternehmen konkret treffen, wie Gerichte urteilen und was das für Verbraucher wie Firmen in der Praxis bedeutet, erfahren Sie in diesem umfassenden Beitrag. Lesen Sie weiter, wenn Sie wissen wollen, wie Barrierefreiheit zum strategischen Vorteil wird.

1. Einordnung und Ziele des BFSG

Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) setzt Deutschland die EU-Richtlinie (EU) 2019/882 – den European Accessibility Act – um und bringt damit erstmals konkrete barrierefreie Anforderungen für digitale Produkte und Dienstleistungen in nationales Recht. Während bislang vor allem öffentliche Stellen durch das Behindertengleichstellungsgesetz verpflichtet waren, gilt nun: Auch private Unternehmen müssen sich an Barrierefreiheitsstandards wie die WCAG 2.1 kontaktiert orientieren Ziel ist es, einheitliche technische Standards und transparente Marktbedingungen zu schaffen, den Binnenmarkt zu stärken und die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen zu fördern.

2. Geltungsbereich und Pflichten für Unternehmen – Wer ist betroffen und wie lässt sich das feststellen?

Eine der entscheidendsten Fragen rund um das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz ist, welche Unternehmen überhaupt verpflichtet sind, Maßnahmen zu ergreifen. Denn nicht jedes Unternehmen, das eine Website betreibt oder ein digitales Produkt anbietet, fällt automatisch unter das Gesetz. Das BFSG zieht eine präzise, aber komplexe Grenze – insbesondere zwischen B2C- und B2B-Angeboten, sowie zwischen Kleinstunternehmen und größeren Betrieben.

2.1 Grundsatz: Verbraucherrelevante Angebote im Fokus

Das Gesetz richtet sich in erster Linie an Unternehmen, die Produkte oder Dienstleistungen für Endverbraucher (also nicht für andere Unternehmen) anbieten. Dies umfasst sowohl digitale Produkte als auch elektronische Dienstleistungen, die „für Verbraucher bestimmt sind oder von Verbrauchern genutzt werden können“. Entscheidend ist dabei die tatsächliche Nutzungsmöglichkeit durch Verbraucher – nicht etwa, ob das Angebot explizit als „B2C“ beworben wird.

Unternehmen sind also betroffen, wenn sie:

  • elektronische Geräte wie Smartphones, Tablets, Geldautomaten oder interaktive TV-Geräte in Deutschland verkaufen oder bereitstellen,
  • digitale Dienstleistungen für Endnutzer anbieten – insbesondere Onlineshops, Webseiten mit Buchungsfunktion, Apps, E-Books oder Online-Banking-Zugänge.

2.2 Praktische Relevanz: So prüfen Unternehmen ihre Verpflichtung

Unternehmen können anhand der folgenden Fragen ihre eigene Verpflichtung relativ klar feststellen:

  1. Biete ich mein Produkt oder meine Dienstleistung direkt Endverbrauchern an?
    – Wenn ja, unterliegt das Angebot grundsätzlich dem BFSG.
  2. Ist mein Webangebot öffentlich zugänglich, ohne Login oder Unternehmensnachweis?
    – Auch das spricht stark für eine BFSG-Pflicht, selbst wenn es sich im Kern um ein B2B-Angebot handeln soll.
  3. Biete ich ein digitales Gerät an, das vom Endkunden genutzt wird?
    – Dann greift das Gesetz unabhängig von einer etwaigen Zwischenschaltung von Händlern.
  4. Bin ich als Händler oder Importeur tätig und verkaufe Produkte unter meiner Marke?
    – Dann gelten die Herstellerpflichten unmittelbar für mich.
  5. Bin ich ein Kleinstunternehmen mit weniger als 10 Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz oder einer Bilanzsumme von weniger als 2 Millionen Euro?
    – In diesem Fall greift die gesetzliche Ausnahme nur, wenn es um digitale Dienstleistungen geht. Für Produktewie Geräte oder Terminals gelten die Pflichten auch für Kleinstunternehmen vollumfänglich.

2.3 B2B-Angebote – keine pauschale Ausnahme

Viele Unternehmen gehen davon aus, dass reine B2B-Angebote nicht unter das Gesetz fallen. Das trifft nur dann zu, wenn:

  • die Angebote ausschließlich für Unternehmen bestimmt sind,
  • die Webinhalte durch technische Schutzmaßnahmen (z. B. Login) nicht frei zugänglich sind, und
  • aus den AGB und dem Gesamtauftritt eindeutig hervorgeht, dass keine Verbraucherverhältnisse bestehen.

Anderenfalls droht ein rechtliches Risiko: Sobald auch nur der Anschein eines offenen Verbraucherzugangs entsteht (z. B. über Google auffindbarer Onlineshop, Buchungstools, keine Prüfung von Unternehmensstatus bei Kauf), greift das BFSG vollumfänglich.

2.4 Pflicht auch ohne kommerzielle Absicht

Das Gesetz stellt nicht auf eine Gewinnerzielungsabsicht ab. Auch kostenfreie Webangebote, Apps oder Informationsportale sind betroffen, wenn sie für Verbraucher bestimmt sind. Für viele Betreiber bedeutet das: Auch vermeintlich „neutrale“ oder „nur informative“ Onlineauftritte müssen barrierefrei gestaltet sein – insbesondere dann, wenn sie funktionale Elemente enthalten wie:

  • Kontaktformulare,
  • eingebettete Videos oder Podcasts,
  • interaktive Karten oder Tools,
  • Buchungs- oder Bestellstrecken.

2.5 Typische Fallgruppen

Um Unternehmen eine Einordnung zu erleichtern, lassen sich die wichtigsten Konstellationen wie folgt zusammenfassen:

  • Klassischer Onlineshop für Endkunden → vollumfänglich verpflichtet, unabhängig von der Unternehmensgröße, da es sich um eine digitale Dienstleistung handelt.
  • Selbstständiger Dienstleister (z. B. Fotograf oder Coach) mit Buchungstool auf der Website → pflichtig, sofern das Angebot sich auch an Privatpersonen richtet.
  • IT-Dienstleister mit Website und Login-basiertem Kundenbereich ausschließlich für registrierte Firmenkunden → möglicherweise nicht verpflichtet, aber klare Abgrenzung notwendig.
  • Startup mit kostenloser App für Verbraucher → verpflichtet, da keine Ausnahme für unentgeltliche Angebote vorgesehen ist.
  • Hersteller von Geldautomaten, Smart TVs oder E-Readern → verpflichtet, da es sich um ein betroffenes Produkt handelt.
  • Importeur von Geräten aus Drittländern → voll verpflichtet, wenn keine CE-Kennzeichnung vorliegt oder unter eigener Marke vermarktet wird.

3. Technische Grundlagen und Standards

Das BFSG verweist auf die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1 als verbindliche technische Grundlage. Diese definieren vier zentrale Prinzipien:

  • Wahrnehmbarkeit: etwa Alt-Texte für Bilder, Untertitel für Videos und ausreichende Kontraste;
  • Bedienbarkeit: Tastaturnutzung, keine Zeitbeschränkungen, klare Navigation;
  • Verständlichkeit: klare Struktur, verständliche Texte, vorhersehbare Interaktionen;
  • Robustheit: Kompatibilität mit technischen Hilfsmitteln und sauberer Code.

4. Rechtslage und gerichtliche Entwicklung

Bisher beruhte die Durchsetzung im privaten Sektor hauptsächlich auf Schutznormen im Wettbewerbsrecht und Datenschutz, etwa über unwahre oder irreführende Angaben zur Barrierefreiheit. Mit dem Inkrafttreten des BFSG verfügen Behörden und private Wettbewerber nun über direkte gesetzliche Durchgriffsmöglichkeiten .

Urteilssituation:

Bislang liegt noch kein konkretes BFSG-Urteil vor. Es wird jedoch angenommen, dass Gerichte Barrierefreiheitsverstöße ähnlich bewerten wie Verstöße gegen die DSGVO – sprich: Abmahnungen, Unterlassungsansprüche und Bußgelder sind zu erwarten. Laut IHK München ist sogar die Abschaltung einer Website als ultima ratio denkbar.

5. Konsequenzen für Unternehmen und Verbraucher

5.1 Für Unternehmen

Unternehmen müssen ihre digitale Infrastruktur umgehend überprüfen – Fehler lassen sich nicht mehr pluginhaft beheben. Pflicht sind:

  • Audit und Maßnahmenplan nach WCAG 2.1,
  • Umsetzung in Design, Struktur und Technik,
  • Dokumentation und regelmäßige Überprüfung,
  • Sensibilisierung der Verantwortlichen.
  • Zeitgleich sollten rechtliche Rahmenbedingungen (Impressum, AGB, B2B-Ausweisungen) geprüft und bei Bedarf angepasst werden, um Haftungsrisiken auszuschließen.

5.2 Für Verbraucher

Barrieren, die bisher abgespaltene Internetseiten oder Onlineshops unzugänglich machten, werden ab Juni 2025 potenziell beseitigt. Menschen mit Beeinträchtigungen erhalten besseren Zugang. Zudem stärkt das Gesetz Verbraucherrechte hinsichtlich Auskunft und Nachbesserung .

6. Handlungsempfehlungen

Unternehmen sollten folgende Schritte ergreifen:

  • Rechtliche Einschätzung: Prüfung der Geltungspflicht (B2C, Unternehmensgröße, Produktarten).
  • Technische Analyse: WCAG-Check durch qualifizierte Dienstleister.
  • Umsetzung: agile Weiterentwicklung der Plattformen – von Alt-Texten bis Codequalität.
  • Dokumentation: Nachweis für Behörden und Nachbarhaftung.
  • Monitoring: Regelmäßige Tests einrichten, z. B. über automatisierte Tools.
  • Schulung: Sensibilisierung von Marketing- und IT-Mitarbeitern für accessibility.

Fazit

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz markiert einen bedeutenden Schritt in Richtung digitaler Inklusion. Es bedeutet für Unternehmen nicht nur rechtlichen Wandel, sondern auch die Chance auf neue Zielgruppen, bessere Nutzererfahrung und positives Image. Gleichzeitig erhöht es Verbraucherrechte und Druck auf Anbieter. Frühzeitige, fachkundige Umsetzung ist unerlässlich, um Sanktionen zu vermeiden und digitale Barrieren nachhaltig abzubauen.Wenn Sie konkrete Unterstützung bei Umsetzung, Auditierung, rechtlicher Überprüfung oder Maßnahmenplanung benötigen, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung – auch im Rahmen von LEGAL SMART’s digitalisierten Leistungen.


KOSTENLOSE CHECKLISTE

1. Rechtliche Einordnung prüfen

  •  Gilt das BFSG für mein Unternehmen (digitale Produkte oder Dienstleistungen an Verbraucher)?
  •  Bin ich als Hersteller, Händler, Importeur oder Dienstleister betroffen?
  •  Besteht eine Ausnahme als Kleinstunternehmen (weniger als 10 Mitarbeiter & < 2 Mio. € Umsatz)?
  •  Fällt mein Angebot vollständig unter B2B und ist entsprechend gekennzeichnet?

2. Zuständigkeiten und Projektteam festlegen

  •  Interne Projektverantwortliche (z. B. Datenschutzbeauftragter, IT-Leitung, Marketing) benennen
  •  Externe Berater einbinden (z. B. Barrierefreiheitsprüfer, Rechtsanwalt, UX-Spezialist)
  •  Budget und zeitliche Ressourcen planen (Frist: 28. Juni 2025)

3. Bestandsaufnahme der digitalen Angebote

  •  Welche digitalen Dienste und Produkte werden angeboten (Websites, Apps, Geräte)?
  •  Welche Inhalte werden selbst erstellt, welche von Drittanbietern eingebunden (z. B. Zahlungsdienste, Buchungstools)?
  •  Gibt es schon barrierefreie Strukturen oder Teilmaßnahmen?

4. Barrierefreiheits-Analyse durchführen

  •  WCAG 2.1‑Audit der Website (z. B. mit Tool wie www.bfsg-testen.de)
  •  Prüfen von Navigation, Kontrasten, Textalternativen, Struktur, Codequalität
  •  Prüfung auf mobile Barrierefreiheit (responsive Design, App-Nutzung)
  •  PDF-Dokumente und Formulare auf Barrierefreiheit analysieren

5. Rechtliche Inhalte prüfen und anpassen

  •  Datenschutzerklärung und Impressum auf BFSG-relevante Hinweise ergänzen
  •  Hinweis auf barrierefreien Zugang zur Website integrieren
  •  Haftungshinweise und Ausnahmeregelungen (z. B. für B2B-Angebote) klarstellen

6. Technische und gestalterische Umsetzung

  •  Barrierefreie Navigation, Schriftgrößen, Farbkontraste, Fokusführung implementieren
  •  Alternativtexte für Bilder, ARIA-Labels und semantische HTML-Struktur einbauen
  •  Tastaturbedienbarkeit sicherstellen
  •  Audio- und Video-Inhalte untertiteln bzw. transkribieren
  •  Externe Tools/Dienstleister zur Barrierefreiheit verpflichten

7. Konformität sicherstellen

  •  Konformitätsbewertung für digitale Produkte durchführen
  •  Technische Dokumentation und Gebrauchsanleitungen barrierefrei gestalten
  •  Konformitätserklärung erstellen und veröffentlichen
  •  CE-Kennzeichnung (bei Hardware-Produkten) korrekt anbringen

8. Interne Prozesse und Mitarbeiterschulung

  •  Mitarbeiterschulung zu Barrierefreiheit (insbesondere in Marketing, IT, Kundenservice)
  •  Accessibility in Entwicklungsprozesse und Content-Erstellung integrieren (z. B. CMS, Templates, Produktdatenblätter)

9. Dokumentation und Nachweise sichern

  •  Prüfergebnisse, Maßnahmenpläne und technische Dokumentation speichern
  •  Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten intern dokumentieren
  •  Nachweisführung für Behörden oder Wettbewerber vorbereiten

10. Monitoring und laufende Kontrolle

  •  Regelmäßige Accessibility-Tests einplanen (z. B. alle 6 oder 12 Monate)
  •  Beschwerden oder Hinweise von Nutzern systematisch erfassen und auswerten
  •  Aktualisierungen an WCAG-Richtlinien oder gesetzlichen Vorgaben regelmäßig verfolgen

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Guido Kluck, LL.M.

Rechtsanwalt Guido Kluck LL.M. ist Partner der Kanzlei LEGAL SMART am Standort Berlin. Er ist Ansprechpartner für das Recht der neuen Medien sowie für die Bereiche Wettbewerbsrecht, Markenrecht, Urheberrecht, IT-Recht, Vertragsrecht und das Datenschutzrecht (DSGVO).

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